Ich hasste es, alleine an eine Party zu gehen. Natürlich kannte ich fast alle, die dort waren, ich war eine von Jans besten Kolleginnen, aber niemand wohnte in meinem Dorf, und vor allem sind alle schon früher an die Party gegangen, was bedeutete, dass ich alleine zur Waldhütte gehen musste. Ausserdem war ich schon in super Stimmung, weil Jan die blendende Idee hatte, meinen Ex einzuladen. Typisch.
Wenn es etwas gab, das ich noch mehr hasste als alleine an eine Party zu gehen, dann war es, alleine dem Waldrand entlangzugehen. Wenn es dunkel ist. An einem Ort, an dem sich angeblich einmal ein Pädophiler an einem kleinen Jungen vergriffen hatte, wenn man das anmerken darf.
Ich hörte Musik. Das war etwa das Dümmste, das man machen konnte, wenn man fürchtete, dass ein Pädophiler hinter dem nächsten Baum hervorspringen könnte, aber Musik beruhigte mich fast immer.
Ich liebte Musik und ihre Bedeutung, kannte aber keine Geschichten über ihre Interpreten, hatte eine schreckliche Stimme und keine Ahnung von Notenlesen. Ich bevorzugte Sport. Was übrigens auch der Grund war, weshalb ich so spät dran war. Ich hatte heute die Aufnahmeprüfung in Magglingen gehabt. Würde die Jury wissen, wo ich jetzt hinging, wäre meine Kunstturnkarriere wohl gleich vorbei. Sportler trinken keinen Alkohol. Sagt man. Maradona war auch irgendwie Weltfussballer geworden.
Als ich mich der roten Stecknadel auf meinem Bildschirm näherte, drang dumpfer Bass durch das Gitarrengezupfe meiner Kopfhörer und ich blieb neben einer Laterne, die jemand neben der Waldhütte abgestellt hatte, stehen. Ich nahm die Stöpsel aus meinen Ohren und checkte noch einmal mein Makeup im Spiegel meines iPhones. Ein bisschen Mascara hatte sich von meinen Wimpern gelöst und ich hob sich nun von meinem hellen Lid ab wie eine tote Fliege vom Schnee. Ich drückte meine Fingerbeere auf das Lid und zog sie vorsichtig in Richtung Augenwinkel. Im Spiegel konnte ich knapp erkennen, wie sich eine schwarze Linie hinter meinem Finger herzog.
«Fuck!» murmelte ich.
«Das ist Lara wie wir sie kennen und das ist Lara wie wir sie mögen: fluchend!»
Ich fuhr herum, ich war mir nicht sicher, ob es Jan war oder mein Ex, Mario. Der riss immer solche Sprüche, vor allem, wenn er betrunken war. Aber es war nur Jan. Jan war allerdings auch schon ziemlich betrunken.
«Arschloch» bestätigte ich seine These, immer am Fluchen zu sein. Wir umarmten uns.
Nachdem ich mich freundlicherweise erkundigte, wie die Party denn so lief und ob alles klar sei, machte ich mich auf die Suche nach einem Tequila. Ich würde schnell genug herausfinden, ob es abging oder nicht. Aber zuerst musste ich denselben Pegel erreichen wie die Leute, die schon seit neun Uhr da waren. Ich fand meinen Tequila und dazu gleich noch zwei süsse Jungs, die mir nicht bekannt waren.
Seit meiner in die Brüche gegangene Beziehung mit Mario hatte ich eine geraume Zeit nichts mehr am Laufen, und ich hatte mich dazu entschieden, bei der nächsten Gelegenheit wieder mal jemanden kennenzulernen. Es musste nichts Ernstes sein. Aber Mario mal wieder eins auszuwischen, schadete nichts. Geschah ihm recht. Ich stellte mich also neben die beiden Jungs und guckte verwirrt um mich.
«Wen suchst du denn?», fragte der Blonde. «Oh, bloss eine Kollegin, wir sind zusammen hergekommen, aber ich glaube, sie hat sich schon einen Typen geschnappt.» Ich grinste ihn an. Das war vermutlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich absichtlich eine Anspielung auf etwas machte, sonst passiert mir das nur ausversehen. Ich sage irgendwas und alle haben das Gefühl, ich will was von meinem Gesprächspartner. Ausser Jan. «Du bist die naivste Person, die ich kenne», sagt er immer, wenn ich wieder einmal ins Fettnäpfchen trete. Danach fühle ich mich natürlich jeweils gleich noch viel besser.
Der blonde Junge schien aber zu dumm oder zu betrunken zu sein, um zu begreifen, was ich eigentlich damit meinte, und lud mich einfach zu einem gemeinsamen Shot ein.
Ich bin die, die am Ende des Tequilas nicht nur in den Zitronenschnitz hineinbeisst, sondern ihn isst. Und meistens gleich noch einen Schnitz hinterher. So bin ich nun einmal.
Allerdings redeten die Jungs mit dem Tequila nur über ihre Mathearbeit in der Schule und so waren sie für den Rest des Abends gestrichen. Ich flüchtete also nach draussen und sah, dass Mario den Bierpong-Tisch noch nicht entdeckt hatte. Das war also mein nächstes Ziel.
Ein mir flüchtig bekanntes Mädchen aus der Schule schloss sich der Gruppe am Bierpongtisch an. An den Partys hier in der Gegend gab es einige unausgesprochene Regeln, und eine davon war sicher, dass Mädchen IMMER zusammenspannten, wenn es um Bierpong ging. Wir spielten also ein, zwei Runden und lernten uns schnell kennen. Als es den Jungs langweilig wurde, gingen wir nach drinnen um uns einen Drink zu machen
Vor der Tür hielt mich das Mädchen zurück. Es war das erste Mal, dass ich sie richtig und in gutem Licht sah. Sie hatte braune Haare, eine zu kleine Nase und wenn sie lächelte zeigte sich ein perfektes Zahnspangengebiss. Sie war genau Jans Typ. Willst du mal was Härteres probieren?», fragte sie mich, nachdem wir uns gründlich gemustert hatten.
«Lara. Was hast du denn dabei?» Eigentlich wollte ich sowieso nichts. Aber ich mochte sie irgendwie. Und unter ‘etwas Härterem’ konnte man sehr vieles verstehen.
«LSD», antwortete sie. «Keine Angst, das macht nicht gleich abhängig, physisch sowieso nicht.» Das hatte ich nicht gewusst. Wollte sie mir das nur aufschwatzen? Nein, sie war nicht der Typ dazu. «Komm schon!», forderte sie mich auf. «Ich verlange auch nichts dafür. Ist echt geil!»
«Ich überleg es mir noch.»
Sollte ich es nehmen oder nicht? Ich habe es noch nie ausprobiert und hier, wo sowieso jemand auf mich aufpassen würde, wäre es wohl nicht zu gefährlich. Aber ich wusste auch nicht, ob das, was Julie gesagt hatte, wirklich stimmte. Machte es wirklich nicht abhängig?
«Weshalb so in Gedanken versunken?» Jan erschreckte mich schon zum zweiten Mal diesen Abend. «Musst du dich immer so unauffällig anschleichen!» fuhr ich ihn an. Ich werde immer wütend, wenn ich erschreckt werde, aber Jan weiss das. «Ganz ruhig», sagte er nur beiläufig. «Hast du Mario schon gesehen?»
«Nein. Aber ich bin auch nicht wirklich scharf drauf, ehrlich gesagt.»
«Ah, gut. Er hat nämlich was mit Meli.»
«Was?!»
«Ich hab’ gedacht, es kümmert dich nicht mehr?», fragt Jan unschuldig.
«Ich hab’ dir auch nicht gesagt, dass du’s mir so unter die Nase reiben musst! Wo ist er denn jetzt?» Ich schaute mich um. Hinten in die Ecke gedrängt stand Mario und ich merkte nur an den Bewegungen, die er machte, dass noch jemand hinter ihm verborgen sein musste. Schnell schaute ich weg.
«Hast du Julie gesehen?», fragte ich Jan, der noch nicht auf die Frage zuvor geantwortet hatte.
«Nein, tut mir leid.»
«Okay…» murmelte ich und ging zurück zum Tequila. Ich hatte Julie bereits selbst entdeckt.
«Du hast gesagt, das Zeug macht nicht abhängig, oder?», fragte ich sie sofort, als ich neben ihr stand.
«Nein. Willst du davon?», fragte sie. Ich sah noch einmal zu Mario und der immer noch nicht sichtbaren Meli hinüber.
«Okay.»
Damit würde ich ihm sicher eins auswischen.
Eine Zitrone zerfloss in meinen Händen und zerschellte in tausende kleine Glassplitter, als sie am Boden aufschlug. Die Musik wich immer wieder Sirenen, und das Spangengebiss und ich versteckten uns im Wald vor den Polizisten, die dann aber nie wirklich auftauchten. Am nächsten Tag würde ich meine Uhr reparieren müssen, der Zeiger drehte sich unaufhörlich und viel zu schnell im Kreis. Und überall waren diese farbigen Schlieren um mich herum.
Ich wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, als Jan die Braunhaarige aufforderte, zu gehen. Mario war nach Angaben der anderen mit Meli verschwunden. Und ich blieb alleine zwischen kaputten Shotgläsern und ausgesogenen Zitronenschnitzen sitzen, bis sich das Licht der aufgehenden Sonne in den zerbrochenen Scherben spiegelte und der neue Tag anbrach.
«Ich denke, ich nehme lieber vom Tequila», lehnte ich doch ab. Ich kann Mario auch anders zu verstehen geben, was ich von ihm halte. Julie und ich nahmen gemeinsam einen Shot, als auf der Veranda ein Tumult ausbrach. Ich verstand nicht, was gesagt wurde, aber plötzlich teilte sich die spärliche Menge und ein Junge in meinem Alter stürmte von der Waldhütte weg. Die geteilte Menge gab den Blick frei auf einen völlig niedergeschlagenen Punk. Er blieb mit hängenden Schultern dort stehen, auch als sich die Menschen um ihn herum längst wieder in Bewegung gesetzt hatten. Ich ging zu ihm hin und zog ihn an den Tanzenden vorbei nach draussen an die frische Luft.
Es nieselte leicht und man hört im Wald laute Stimmen, weshalb ich ihn hinaus auf die feuchte Wiese zog.
«Alles klar?», fragte ich ihn. Dumme Frage, das war es nicht, sonst hätte er sich nicht mit seinem Freund gestritten. «Tut mir leid, das war eine doofe Frage. Willst du mir was erzählen?»
Der Punk schaute ein bisschen verwirrt um sich, fasste sich und streckte mir die Hand entgegen. «Ich bin Ewan.»
«Lara, freut mich.»
Er lächelt.
In diesem Moment begann das Feuerwerk - ich hatte ganz vergessen, dass es ein Feuerwerk gab! Eine Weile schauten wir es uns an, bis mir die Stille unangenehm wurde.
«Weshalb bist du an der Party?», fragte ich ihn.
«Der Freund, mit dem ich gestritten habe.»
«Ah.» Was sollte man sonst darauf antworten, wenn er nicht über den Streit sprechen wollte. Zu fragen, ob er eine gute Zeit hatte, wäre auch blöd gewesen. Und weil mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, standen wir einfach eine Weile da und schwiegen uns an. Das war manchmal auch nicht schlecht. Mit manchen Menschen war das sogar toll. Vor allem mit Ewan, denn es gab uns Zeit, einander zu mustern.
Er hatte grüne Augen, braune, viel zu viel Wachs in den Haaren, die ihm vom ganzen Kopf abstanden, und seine Lippen zierte ein Piercing, das ich wohl bei allen anderen Männer scheusslich gefunden hätte. Aber zu ihm passte es irgendwie. Er hatte einen ganz leichten Ansatz eines Bierbauches und es schien, als ob ihm sein T-Shirt ein bisschen zu eng dafür war.
Er fing plötzlich an zu grinsen und erinnerte mich ganz schrecklich an den hämisch grinsenden Jan, als er mich das erste Mal mit meinem Ex-Freund hatte herummachen sehen. Doch er beunruhigte mich nicht.
«Was ist denn?», fragte ich und musste auch grinsen. Das war doch total albern.
«Ich frage mich nur, wie du darauf kamst, mich einfach aus dem Loch zu holen und mich hierher zu bringen. Mit dieser Aussicht.» Er zeigte auf das Leuchten der Strassenlaternen unten im Dorf.
«Also ich weiss nicht genau, was du an dieser Lichtverschmutzung so bewundernswert findest», überlegte ich laut, «aber der Grund, weshalb ich dich da rausgeholt habe, war vermutlich Alkohol. Und dass du verloren dreingeschaut hast.»
Daraufhin sagte er wieder eine Weile nichts mehr. Manchmal war ich wohl ein bisschen zu direkt. Mist.
«Zwar, die Aussicht ist vielleicht doch nicht so schlecht.»
Schon war sein Grinsen zurück. Der brauchte aber Zuneigung.
«Was machst du so in deiner Freizeit?» fragte er.
«Ich werde Profisportler. Und du?»
«Dann solltest du aber keinen Alkohol trinken», wich er der Frage aus. «Wieso? Doping ist auch ‘ne Droge.»
Er lachte. «Ich spiele in einer Band.»
«Sag bloss nicht Pop Punk.»
«Okay.»
Jetzt musste ich lachen. Natürlich spielte er in einer Pop Punk Band.
«Was spielst du denn für ein Instrument?»
«Gitarre.»
«Da kann man also Schöneres spielen als Pop Punk.»
«Lassen wir das einfach.»
Dieses Grinsen! Wieso war er so überglücklich, dass ich seine Musik nicht mochte?
Der Kuss kam völlig unerwartet. Aber ich weiss noch genau, wie ich mich wunderte, wie gut sich das Piercing anfühlte. Wie er seine Hände um mein Gesicht legte und seinen Körper näher an meinen drückte.
Und jetzt sehe ich ihn das erste Mal an unserer Schule. Doch sein Grinsen sagt mir, dass es wohl nicht das letzte Mal gewesen sein wird. Auf jeden Fall hoffe ich das. Denn aus irgendeinem Grund finde ich das Geschrei, das aus meinen Kopfhörern dringt und er mit seiner Band komponiert hat, doch gar nicht so schlecht.
Autorin: Lena