Meinst du, er hat sich elegant angezogen? Oder eher lässig?“ Ihre Hand schnappte ruckartig nach meiner und sie riss die Augen so weit auf, dass ihre frisch nachgezeichneten Augenbrauen unter ihrem Pony verschwanden. „Was wenn wir nicht richtig informiert worden sind und es eine Kostümparty ist?“
Ich rollte mit den Augen und tätschelte bloss sanft ihre Hand, wobei ich ihren starken, schnellen Herzschlag spürte. Doch es war nicht nur der Herzschlag, der ihre Aufregung deutlich machte. Schon die ganze Taxifahrt, den ganzen Tag, die ganze Woche hatte sie dieselben Fragen gestellt – mit leichten Abwandlungen. So fragte sie mich an jenem Morgen, ob sie sich elegant anziehen sollte. Oder eher lässig?
Natürlich, ich hätte versuchen können, sie zu beruhigen, ihr zu sagen, dass sie nicht aufgeregt zu sein brauche.
Aber nicht nur sie hatte Grund zur Aufregung.
Denn ob man es glaubt oder nicht, ich als siebzehnjähriger Schüler mit reichlich Freizeit war noch nie auf einer Party gewesen. Und wenn es nach mir ginge, wäre das auch so geblieben. Natürlich war ich schon einige Male auf kleineren Partys mit meinen Freunden gewesen, wenn man sie denn überhaupt als Partys bezeichnen konnte. Aber während Gleichaltrige sich betranken, rummachten, dämliche Trinkspiele spielten und was weiss ich was für Stoffe zu sich nahmen, war ich viel lieber zuhause, las oder spielte normale Spiele.
Man könnte mich als Langweiler bezeichnen. Ja, man könnte mir vorwerfen, ich hätte kein Spass im Leben, sei einsam. Vielleicht stimmte das sogar, aber ich hätte sicher nicht mehr Spass am Leben, wenn ich an Partys mit dutzenden Leuten gezerrt werden würde.
So unwohl mir auch war bei dem Gedanken, ich war trotzdem – ohne arrogant klingen zu wollen – ein guter Freund. Und als guter Freund konnte ich doch nicht Vanessa alleine auf eine Party gehen lassen, oder?
Es war kurz nach acht als unser Taxi beim Waldrand ankam und wir ausstiegen. Vanessa bezahlte das Taxi – das war einer der Kompromisse, die wir geschlossen hatten, damit ich an diese Party kam.
Ein anderer war, dass sie immer bei mir bleiben und kein Alkohol trinken würde, doch wie ich sie kannte, würde daraus nichts werden.
Während wir zu Fuss den schmalen Waldweg entlangliefen und die Bäume sich verdichteten, schwärmte Vanessa von Jan. Von ihrem Jan, der nicht wirklich ihrer war. Okay, der so überhaupt nicht ihrer war.
„Denkst du, wir sind die ersten? Ich hoffe es zumindest, denn dann fallen wir ein wenig auf, nicht? Dann merkt Jan, was für gute Freunde wir sind. Ich bin so froh, dass er mich eingeladen hat, oh, und natürlich auch dich, Finn“, plapperte sie und ich konnte sie beinahe wie ein kleines Mädchen hüpfen sehen vor Aufregung. Ich war ziemlich sicher, dass Jan weder ihr noch mir eine direkte Einladung geschickt hatte. Schliesslich lief das auf Partys von Jugendlichen doch so ab, nicht? Irgendein beliebter Schüler macht eine Masseneinladung über Facebook und schon kommen tausende von Leuten, die Waldhütte ist überfüllt, Zerstörung, verkaterte Schüler und –wenn es schlimm kommt – sogar Tote sind die Folge. Eine typische Party.
Wir waren tatsächlich die ersten Gäste und es war Jan sichtlich anzumerken, dass er noch nicht mit uns gerechnet hatte. „Oh, ihr seid schon hier! Wie schön! Schön, dass ihr kommen konntet!“ So begrüsste er uns, als wir ihn unter der Überdachung der Waldhütte getroffen hatten. Alles lauter Floskeln, die man wohl jedem Gast irgendwann an den Kopf warf, aber für Vanessa musste es so tönen, als seien wir etwas wirklich Besonderes. „Alles Gute zum Geburtstag!“, wünschten wir ihm beide. Vanessa umarmte ihn, ich klopfte ihm nur freundschaftlich auf die Schultern, was ich sofort bereute. Welcher Typ klopfte schon jemandem auf die Schultern? Gott, er musste mich für bescheuert halten.
„Danke für die Einladung, Jan. Können wir dir irgendwie helfen?“, fragte Vanessa, denn wir hatten ihn offensichtlich beim Aufbau der Tische gestört. „Nein, nein, danke.“ Eine vorhersehbare Antwort.
„Gut, dann sind wir mal drinnen!“, sagte Vanessa und lachte, als hätte Jan einen ultra-komischen Witz gerissen.
Die Waldhütte war schön geräumig. Nur wenige Tische standen jeweils an den Seiten der zwei Räume, aus denen die Hütte bestand. Aus Boxen dröhnte Musik, die ich nicht kannte. Aber welche Musik kannte ich schon?
Auf einem der Tische standen Papiertüten voll mit Getränken, die ich – wie konnte es anders sein – nicht kannte. Wahrscheinlich waren es alles irgendwelche stark-alkoholischen Getränke, die wie Brennsprit rochen und schmeckten. Ich werde nie verstehen, wie man dieses Gesöff trinken kann.
Ich konnte Vanessas Hand schon nach einer Flasche – Captain Morgan oder irgend so etwas – greifen sehen. Stattdessen aber schenkte ich uns beiden Cola ein, das Einzige an Alkoholfreiem, was ich fand. „Unsere Abmachung, schon vergessen? Ich meine, ich wusste, dass du sie irgendwann vergessen würdest, aber schon jetzt?“, lachte ich und zerrte sie auf eine Sitzbank. Sie rollte nur mit den Augen.
Während wir dort sassen und Jan alles bereitmachte, trudelten die nächsten Gäste ein. Die meisten davon kannte ich nur entfernt von der Schule, aber das wunderte mich nicht. Selbst Jan kannte ich nicht besonders.
Jedenfalls setzten sich die anderen Gäste zu uns und begannen, sich aus Cola und irgendetwas Alkoholischem Drinks zu mischen. Sie schienen noch gemässigt zu trinken, nicht so wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich spürte Vanessas flehenden Blick, doch ich schüttelte nur den Kopf. Solange sie noch auf mich hörte, sollte ich ihr das Trinken nicht erlauben.
Vanessa begann sich mit den anderen Gästen zu unterhalten. Smalltalk halt, was so überhaupt nicht meine Stärke war, weshalb ich einfach nur zuhörte. Nach einiger Zeit setzte sich auch Jan zu uns, gefolgt von weiteren Gästen.
So kam es, dass wir nach circa einer halben Stunde ein Dutzend Leute waren. Eigentlich müsste ich da anfangen, mich unwohl zu fühlen. Ich müsste eigentlich anfangen, nach Hause gehen oder einfach nur im Boden versinken zu wollen. Doch zu meiner eigenen Überraschung fühlte ich mich einigermassen wohl.
Ja, die Musik war nicht so nach meinem Geschmack und ja, sie war ein wenig zu laut. Ja, Vanessa war mehr mit den anderen Gästen oder Jan beschäftigt als mit mir und ja, ich kannte die Gäste nicht und es waren mir zu viele.
Doch trotz alledem fühlte ich mich wohl.
Wie naiv ich war.
So wie es schien, waren Anfangszeiten von Partys vielmehr grobe, sehr grobe Richtwerte, als wirklich die Zeit, an der die Gäste kamen. Um zehn war nicht mehr so viel Platz in der Waldhütte. Überall tanzten Menschen. Man hatte Glück, wenn man irgendwo mal ein Stück Fussboden entdecken konnte.
Der Alkoholkonsum war auch nicht so gemässigt, wie ich gedacht hatte. Oder zumindest nach meinen Massstäben war er nicht gemässigt. Da ich recht nahe beim Tisch mit den Getränken sass (ich hatte mich seit Anfang der Party nicht von der Stelle gerührt), hatte ich einen ziemlich guten Überblick darüber, wer wie viel getrunken hatte. Nach meinen Zählungen war Jan, das Geburtstagskind selbst, mit 5 „Longdrinks“ (da soll mal einer behaupten, man lerne bei einer Party nichts!) und zwei Shots nach eineinhalb Stunden derjenige, der am meisten getrunken hatte.
Ja, ich sass da und zählte. Ich denke, das sagt schon genug darüber aus, wie unterhalten ich von der Party war. Vanessa war nach eineinhalb Stunden noch bei Null, worauf ich wahrscheinlich stolzer war als sie selbst.
Ausserdem zählte ich schon fünf Joints.
Überall waren Leute, überall war Alkohol, überall waren Leute, die Alkohol tranken. Von überall dröhnte ohrenbetäubende, grässliche Musik und überall stank es.
Es war ein Desaster.
Wäre Vanessa nicht hier gewesen, wäre ich sofort gegangen. Gott, ich wäre noch nicht mal dort gewesen.
Aber sie war da, sass neben mir, seit wir dorthin gekommen waren. Und sie war so stolz auf mich, dass ich an eine echte Party ging. „Was? Unser Finn, der introvertierte, langweilige Finn, geht mit mir auf eine Party? Bist du krank? Geht es dir nicht so gut?“, hatte sie mich gefragt, als ich ihr damals zugesagt hatte.
Ach ja, damals. Als ich noch dachte, eine Party würde mir guttun.
Wie naiv ich war. Ich kann es nicht oft genug sagen.
Doch ich lernte nicht aus meinen Fehlern, sondern beging um zehn gleich den nächsten.
Denn da ging ich aufs Klo. Und liess Vanessa alleine.
Eigentlich ging ich nur, weil ich für mindestens eine Minute meine Ruhe haben wollte von dem Affentheater, das man Party nannte.
Obwohl es auf der Toilette nicht wirklich sicher war vor Leuten oder vor der Musik, liess ich mir Zeit. Es war einfach eine wohltuende Abwechslung, keine Leute zu haben, die einen auf die Pelle rückten.
Doch als ich zurückkam, war der Supergau schon geschehen.
Vanessa war weg.
Dort wo wir gesessen hatten, sass jetzt ein Paar, das wild und in aller Öffentlichkeit herumknutschte. Schamgefühl kannten die beiden wohl auch schon längst nicht mehr.
Doch ich hatte andere Probleme, um die ich mich kümmern sollte. Wo war Vanessa?
Panik erfüllte mich. Denn ich wusste, was sie anstellen konnte, wenn sie erstmals alleine war. Sie würde sich betrinken und ehe ich sie gefunden hätte, würde sie irgendetwas furchtbar Dummes tun. Sie würde sich höchstwahrscheinlich blamieren und im schlimmsten Fall auch noch vor Jan. Und wer würde dann schuld sein? Ich, denn ich hatte sie alleine gelassen.
Panisch liess ich meinen Blick über die Menge schweifen, doch es waren zu viele Menschen da. Das brachte so nichts. Ich versuchte, mich um die Leute herum zu bewegen, doch irgendwie hatte die Menge weder Anfang, noch Ende. Es war wie ein undurchdringbarer Dschungel. Und es gab nur einen Weg hindurch. Durch die Mitte.
„Oh, hey, Finn!“, begrüsste mich ein Mädchen aus meiner Parallelklasse, mit dem ich eigentlich nichts zu tun hatte, kaum hatte ich mich entschlossen den Dschungel zu durchqueren. Sie hatte einen roten Plastikbecher in der Hand, mit dem sie wild herumfuchtelte, während sie... Nun ja, während sie sich auf jeden Fall überschwänglich bewegte. War das Tanzen? Tanzte man so an einer Party?
Ich lächelte ihr nur kurz zu und drängte mich dann weiter durch die Menge. Erst jetzt fiel mir auf, wie viele ich hier kannte. Doch niemand von ihnen sah wirklich vertrauenswürdig genug aus, dass ich ihn oder sie nach Vanessa hätte fragen können, denn alle waren sie betrunken.
Ich würde sie alle nie mehr mit den selben Augen sehen können. Denn vielleicht war es dumm von mir, das zu glauben, aber ich hatte von den meisten nicht erwartet, dass sie an Partys gingen oder dass sie sich betranken. Ich realisierte, dass nicht sie die Seltsamen waren – ich war es.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich schliesslich den Ausgang der Waldhütte. Die frische Luft durchflutete meine Lungen und es fühlte sich so an, als sei ich nach einem langen Tauchgang wieder an die Luft gekommen.
Doch so wohltuend es auch war, hier fand ich Vanessa genauso wenig. Stattdessen sah ich, dass die Sonne bereits untergegangen war, und die Sterne jetzt funkelten. Es stank nach Gras. Nicht das gute, frischgemähte Gras. Marihuana-Gras.
Ich fragte einen Jungen, der mit mir an die Schule ging, ob er Vanessa gesehen habe, doch er schüttelte nur den Kopf.
Ich wusste nicht, dass es möglich war, eine ganze Stunde damit zu verbringen, eine Person zu suchen, aber es war möglich. Tatsächlich war die Stunde für mich sogar die spannendste der ganzen Party. Ich hatte in der Menschenmenge gesucht, so gut es ging,
und dazu noch in der näheren Umgebung der Waldhütte. Es war zwar dunkel, aber ich fürchtete mich nicht, als ich eine weite Runde um den Waldrand machte. Nicht nur, weil ich eine Taschenlampe dabei hatte – ja, eine echte Taschenlampe für den Partynotfall – sondern auch, weil ich mich freier und lebendiger fühlte als in der überfüllten Waldhütte. Sogar als es irgendwann – ich hatte den Überblick über die Zeit verloren – zu regnen begann, blieb ich ruhig und hörte den dicken Regentropfen zu, wie sie von Blatt auf Blatt schlugen.
Nach zirka einer Stunde gab ich das Suchen dann auf, was nicht hiess, dass ich zurück in die stickige Waldhütte gehen musste. Da Vanessa mich verlassen hatte und nicht umgekehrt, brauchte ich mich nicht schuldig zu fühlen.
Ich drehte noch eine zusätzliche Runde um die Hütte ohne wirklichen Grund und machte dann kehrt. Während ich mich dem Waldweg hinunterbewegte, wurde der Himmel plötzlich von allen möglichen Farben erleuchtet. Kurz darauf ertönte lautes Knallen, das nur durch das dichte Netz aus Blätter gedämpft wurde. Ein Feuerwerk.
Gehörte das zur Party, ein Feuerwerk? Falls ja, dann hatte ich wohl einen positiven Aspekt gefunden und das, während ich alleine im Wald spazieren ging.
Die Lichter, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten, erhellten die Baumkronen. Vom eigentlichen Feuerwerk sah ich nur wenig, doch das genügte mir.
Leider war der Spass aber nach kurzer Zeit vorbei, ich wurde wieder in die bittere Party-Realität gezogen.
Die Waldhütte und der sich dahinter befindende, rettende Waldrand waren bereits aus dem Dickicht aufgetaucht, als ich plötzlich Stimmen hörte. Stimmen? Warum verwunderte mich das so, schliesslich war es auf einer Party normal, dass man Stimmen hörte. Also nein, was mich verwunderte war nicht, dass da Stimmen waren. Es verwunderte mich, dass diese Stimmen brüllten. Wer auch immer da im Wald war, schrie nicht nur, er brüllte.
Ich blieb auf dem Weg stehen, horchte. Nein, das war nicht typisch für eine Party. Ich konnte so schlecht gegenüber Partys eingestellt sein wie ich wollte, aber nun musste selbst ich zugeben, dass da etwas nicht stimmte.
Ich konnte keine Worte ausmachen, niemanden sehen, doch es waren offenbar zwei Personen, nur eine einzige brüllte nicht, sondern war ganz leise, fast flehend.
Ich gebe es nicht gern zu, aber in dem Moment dachte ich nur, dass ich möglichst schnell von hier weg wollte.
Ich war schon fast bei der Waldhütte, als ich eine Gestalt aus dem Wald taumeln sah. Ich wäre weggerannt, wäre ich wirklich, ich wäre einfach abgehauen, ohne einmal zurückzusehen, wenn der Junge, kaum älter als ich, nicht auch zu mir geschaut hätte. Und natürlich wenn er nicht das ganze Gesicht voller Blut gehabt hätte, das im Schein meiner Taschenlampe widerlich schimmerte.
Er hielt sich mit der einen Hand die Nase, den Ursprung des Blutes oder zumindest von dem meisten Blut. Mit der anderen Hand fuchtelte er in der Luft herum.
Na toll, so weit sind wir bei meinen Befürchtungen also schon. Jetzt stirbt schon der erste, war das, was mir als erstes durch den Kopf ging, als ich mich ihm näherte.
Mir war bewusst, dass er nicht wirklich sterben würde, es war „bloss“ eine Platzwunde auf der Stirn und die Nase war vielleicht gebrochen.
Zumindest soweit ich das als Laie beurteilen konnte.
„Kannst du...?“, fing er an, doch er schloss den Mund gleich wieder, denn das Blut floss in Strömen. Instinktiv, ohne gross nachzudenken, nickte ich. Doch ich war komplett überfordert mit der Situation. Ich hatte nicht erwartet, an einer Party als Arzt einspringen zu müssen. Ausserdem hatte ich doch keine Ahnung, woher ich so Sachen wie Verbandszeug herbekommen konnte. Wie verarztet man eine Platzwunde überhaupt?
Ich wurde aus den Gedanken gerissen, als ich den erwartungsvollen Blick des Jungen sah. Er hatte wohl nicht erwartet, dass ich einfach vor ihm stehen blieb.
„Ähm... Ja, komm mal mit. Ich meine, kannst du gehen?“, fragte ich verlegen. Was für eine dumme Frage, wo ich ihn doch gerade aus dem Wald laufen gesehen hatte. Nichtsdestotrotz nickte er und ich lief voraus Richtung Waldhütte. Dabei liess ich mich einfach von Instinkten treiben, ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Der Junge folgte mir zügig.
Als wir bei der Waldhütte ankamen, warfen uns alle besorgte, aber angewiderte Blicke zu. „Oh, nein, was ist denn passiert?“, fragte ein Mädchen, das sich an der Aussenwand stützte. Sie taumelte zu uns herüber und berührte den Verletzten an den blonden Haaren, tätschelte ihn, als würde das irgendetwas helfen.
Da wurde mir bewusst, warum ich ihn hierher gebracht hatte. Ich hatte gehofft, er würde jemanden von der Party kennen, der ihm helfen könnte. Aber die meisten konnten nicht einmal auf sich selbst aufpassen. Ich musste es tun, das stand nun fest.
Ich sagte dem Jungen, er solle hier warten, und versuchte dabei, die Panik in meiner Stimme zu verstecken. Er nickte. Auch er musste wissen, dass die anderen nicht in der Verfassung waren, einen Verletzten zu bandagieren oder was auch immer man in so einer Situation zu tun hatte. Ich betrat die Waldhütte, suchte nach einem Erste-Hilfe-Kasten, drückte mich an Leuten vorbei, fragte sie, ob sie so etwas gesehen hätten, aber alle schüttelten sie den Kopf.
Obwohl ich mich beeilt hatte, war ich erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder draussen. In den Händen hielt ich einen Verbandskasten, den ich in einer Nische über dem Klo gefunden hatte. Ausserdem hatte ich eine Flasche Captain Morgan – Rum, wie ich gelernt hatte – gepackt, um das Desinfektionsmittel zu ersetzten.
Der Junge hatte sich inzwischen auf die Sitzbank vor der Hütte hingelegt, umzingelt von einer Schar Jugendlicher, durch die ich mich rücksichtslos drängte. Die Blutung aus seiner Nase hatte sich in der Zwischenzeit beruhigt, doch die Platzwunde sah übel aus.
Hilflos leerte ich den gesamten Inhalt des Kastens in meinen Schoss: drei Bandagen, Scheren, eine Packung Pflaster, Tücher. „Ich bin übrigens Hannes“, stellte er sich vor, als ich einfach mal anfing, mit den Tüchern das Blut abzuwischen. „Finn“, sagte ich knapp. Als wäre es nicht schon persönlich genug, dass ich auf seinem Gesicht herum tupfen musste. Anschliessend desinfizierte ich die Platzwunde mit dem Rum. Nach meiner ganzen Prozedur, die die anderen Gäste begafften, sah die Wunde fiel besser aus. Ich suchte ein Pflaster aus und klebte es ihm sorgfältig auf die Stirn. Die übrigen Tücher drückte ich ihm in die Hände, damit er so seinen Blutfluss weiter stoppen konnte. Nach getaner Arbeit betrachtete ich mein „Werk“. Okay, er sah ziemlich dämlich aus mit dem Pflaster mitten auf der Stirn. Ausserdem konnte ich nichts gegen die Nase machen, die wahrscheinlich höllisch wehtat. Doch für den Moment sollte es genügen. „Danke, Mann“, murmelte Hannes und setzte sich auf. „Brauchst du... Ich meine, meinst du, wir sollten einen Krankenwagen holen? Wegen deiner Nase?“
Die Sache mit Hannes liess mich all meine anderen Probleme vergessen oder verdrängen. Doch als alles mit ihm gelöst war, fielen sie mir wieder ein.
Ich wollte gehen, schon vor mehr als einer Stunde, stellte ich fest, als ich auf die Uhr blickte. Es war schon weit nach Mitternacht, die Party lief auf Hochtouren, doch immer noch keine Spur von Vanessa, obwohl die meisten Partygäste Wind davon gekriegt hatten, was mit Hannes passiert war. Langsam machte ich mir Sorgen. Die lächerlichsten Theorien gingen mir durch den Kopf.
Doch dann kam plötzlich Jan und er kam von einer Richtung, aus der ich niemals erwartet hätte, dass er kommen würde. Er kam aus dem Wald, nicht den, aus dem Hannes getaumelt gekommen war, sondern das Dickicht, das gerade an die Hütte angrenzte.
Er hatte verstrubbelte Haare.
Lippenstift auf den Wangen, das T-Shirt war verkehrt herum.
Selbst ich, der brave, anständige Finn, verstand, was das bedeutete. Jeder wusste es, doch das Schamgefühl hatte sowohl er als auch die anderen Gäste eh schon längst verloren.
Kein Wunder, dass ich Vanessa nie gefunden hatte.
Denn sie weinte, als ich sie ungefähr eine halbe Stunde später fand.
Ich hatte meine Jacke in der Hütte vergessen und ich wollte sie noch mitnehmen, bevor ich nachhause gehen würde.
Und da war sie. Alleine auf dem Klo.
Weinend. Nicht vor Lachen oder vor Freude oder weil sie irgendwie zu viel getrunken hatte. Nein, sie weinte leise und still.
Herzschmerz, das hatte ich schon oft bei ihr erlebt, aber niemals, niemals wäre ich darauf gekommen, dass sie an jenem Abend, auf den sie sich schon so lange gefreut hatte, weinen würde, obwohl es rückblickend Sinn machte. Denn was wäre eine gute Party mit allem was dazu gehört, ohne ein bisschen Drama?
Autor: Michel